Mitte Januar 2016: Der Regenwald am Festland ist nur wenige Meilen von unseren Ankerplätzen entfernt und so verabreden wir mit unseren Freunden von der Fajo, eine Tour zu einem Seitenarm des Rio Tigre. Die Flüsse und den Regenwald darf man nur mit einem Führer bereisen, mit Zustimmung der örtlichen Sailas, den Dorfältesten, lesen und hören wir. Also werden wir eines Morgens von Lisa Harris, bekannter als Mola Lisa, mit ihrem großen Einbaum abgeholt. Schnell noch mal umgekehrt, gut, dass auf der Muktuk noch fünf alte Feststoff-Schwimmwesten lagern, denn ohne dürfen wir nicht los.
Bei den Kunas gibt es einige Transvestiten: Jungen, die als Mädchen großgezogen werden, falls eine Familie keine oder zu wenig Mädchen hat. So auch Mola Lisa, lange Haare, Sonnenbrille mit Tigermuster, Handtasche in schwarzem Lack mit Kirschen drauf, feminines Auftreten. Sie näht wunderschöne Molas und bietet Touren an.
Wir fahren mit ihr und einem älteren Kuna im Boot zur Flussmündung und ein Stück den Fluss hinauf, vorbei an Bananen- und Kokosplantagen, ab und zu schaut ein Kuna am Ufer neugierig, wer da vorbei tuckert. Das Wasser ist schön klar, man kann bis auf den Grund sehen. Irgendwann geht es nicht mehr weiter fürs Boot.
Wir steigen aus und laufen einen Hang durch den Wald hoch, kommen an einem Friedhof vorbei, dann an einem zweiten. Das ist der private Friedhof von Lisa, sie hat vor etlichen Jahren das Grundstück gekauft und inzwischen ihre Eltern und ihren Schwager dort begraben, aber auch andere Familien aus ihrem Dorf haben dort ihre Verwandten zur Ruhe betten können. Kleine Hügel aus lehmiger roter Erde, geschützt gegen Regen durch eine große Hütte mit einem Dach aus Palmwedeln. Wellblech wäre bei der tropischen Feuchte lange nicht so haltbar und viel wichtiger noch, könnten die Seelen nicht entweichen.
Die Kunas werden in ihrer Hängematte beerdigt, die Frauen tragen ihr schönstes Gewand, eine traditionelle Molabluse und ihren gesamten Schmuck. Auf den Gräbern sehen wir Tonschalen, in denen u.a. Kakao-Bohnen verbrannt werden. Der Rauch kann durch ein Loch im Boden gelangen – für die Toten. Daneben steht die Lieblingstasse des Verstorbenen. Aber auch andere erstaunliche Dinge liegen auf und neben den Gräbern oder hängen an den Pfählen der Hütten, eine Sammlung an Schuhen, ein halber Plastikstuhl, Töpfe, Pfannen.
Da keine anderen Kunas in der Nähe sind, dürfen wir Fotos machen, dann geht es weiter durch den Regenwald, wieder zum Fluss runter, Lisa will uns die Wasserfälle zeigen. Quer über den Weg gehen Straßen der Blattschneider-Ameisen, ein Gewimmel aus wandernden Blättern, faszinierend in ihrem Fleiß und Ausdauer.
Blattschneiderameisen unterwegs
Wir waten die meiste Zeit knöcheltief durchs Flussbett flussaufwärts bis wir zu einer Stelle gelangen, wo wir unsere Rucksäcke Lisas Helfer geben dürfen, der den Wald hochklettert. Wir waten durch tieferes Wasser, stellenweise geht es nur schwimmend voran und da ist schon der erste kleine Wasserfall. Lisa setzt ihre Schwimmbrille auf und macht uns vor, wie man hier über die Steine wieder runter sausen kann, ins wirbelnde Wasser hinein. Sie ist stark und eine geschickte Schwimmerin.
Beim dritten Wasserfall machen wir eine Pause und nach einigem Fragen beginnt Lisa zu erzählen. Sie lebt mit ihrer Schwester und ihren Nichten zusammen, ein reiner Frauenhaushalt, da der Schwager gestorben ist, die Brüder leben in anderen Ortschaften bei ihren Frauen. Aber der Zusammenhalt im Dorf ist groß, die Männer bringen ihr immer wieder Fisch und Langusten mit, dafür hilft sie den Familien aus, wenn es an Mehl und Zucker fehlt oder jemand Geld für besondere Ausgaben braucht. Auch besitzt die Familie etwas Land, das sie ernähren kann.
Nach der Religion gefragt, sagt sie, gibt es nur einen Gott, und der ist der Gott aller Menschen auf Erden. Er hat für die Kunas das schönste Fleckchen der Erde ausgesucht: nicht zu warm, nicht zu kalt, keine Wirbelstürme oder Erdbeben, ausreichend Fisch im Meer und genügend Obst und Gemüse zum Anbauen. Dann hat er vier Sterne in Frauengestalt auf die Erde geschickt, um den Kunas zu zeigen, wo und wie sie hier leben sollen. Eine der vier Frauen blieb bei den Kunas, wurde wie ein Mensch beerdigt und ihre Seele ging den Fluss hinauf ins Paradies. Kunas, die ein gutes Leben gelebt haben, ganz nach den Regeln der Gemeinschaft lässt Gott schnell ins Paradies kommen, ebenfalls flussaufwärts. Andere wiederum, die schlechte Angewohnheiten aus Panama City mitgebracht haben, gar zu Dieben und Mördern wurden, haben es schwerer, sie erscheinen ihren Angehörigen noch lange im Traum, weinen und klagen und dürfen erst nach langer Prüfung in den Himmel. Auch verbiete ihr Gott, dass Menschen operiert werden oder nach ihrem Tode einer Autopsie unterzogen werden. Sie müssen unversehrt beerdigt werden.
Auf die Klimaerwärmung und die sichtbaren Folgen für Guna Yala angesprochen (es verschwinden mehr Inseln durch Überflutung als neue entstehen können) meint Lisa – ja klar, die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eine Sache. Aber die Kunas glauben, dass dies die Strafe Gottes sei für ungehöriges Verhalten einzelner Gemeinschaftsmitglieder. Und das Meer steige und sinke sowieso im Jahreszyklus, genauso wie der Pegel der Flüsse. Gott werde schon alles richten.
Auf dem Rückweg nehmen wir die Abkürzung durch den Wald, Lisa zeigt uns noch ein paar Blumen, ein wunderbarer Ausblick von oben aufs Meer, auf den grünen Regenwald. Und noch einmal kommen wir am Friedhof vorbei. Lisa zeigt uns das Grab von zwei Geschwistern, beide waren Albinos. Diese werden von den Kunas sehr verehrt, Gott habe ihnen besondere Kräfte gegeben. Sie sind schon im Alter von 50 Jahren gestorben. Und nein, fügt sie sogleich hinzu – ohne auf die unvermeidliche Frage zu warten, die wurde wahrscheinlich schon häufiger gestellt – nicht an Hautkrebs. Gott habe es so gewollt.
Lisa spricht bei den Familiengräbern mit ihren Angehörigen, verspricht ihnen, bald wieder vorbei zu kommen. Zu ihrer Mutter hatte sie ein sehr enges Verhältnis, erzählt sie. Nach ihrem Tod erschien sie Lisa im Traum, sprach davon, wie schön es im Paradies sei und sie wünschte, ihre Tochter könne bei ihr sein. Sie habe bereits den Schamanen überzeugt, Lisa eine Krankheit zu schicken. Aber Lisa kann und will noch nicht gehen, sie muss ihre Familie versorgen, kann sie nicht alleine lassen. Von den Einnahmen aus den Touren gibt sie die Hälfte an ihr Dorf ab, den Erlös aus dem Verkauf ihrer Molas kann sie gänzlich behalten.
Zurück auf unseren Booten packt Lisa ihren wasserdichten Eimer mit den Molas aus und wir kaufen einige von ihr. Sie hat Molas mit traditionellen geometrischen Mustern, Heilpflanzen oder Wolken und viele mit Vögeln und Tieren des Urwaldes, Meerestieren, und eine mit Köpfen, die Hüte tragen: „Nuchus“ stellen sie dar. Das sind schön geschnitzte Holzstäbe von denen jeder Kuna, aber auch jedes Haus, welche besitzt. Sie werden von den Medizinmännern, den Schamanen, mit Leben versehen und sollen ihre Besitzer, die Häuser und die Dörfer beschützen. Diese guten Geister können sich frei von Insel zu Insel bewegen und erkunden, wo Gefahren drohen, um davor rechtzeitig zu warnen. Auch kann der Schamane mit dem persönlichen Nuchu sprechen, um bei Kranken herauszufinden, wo die Beschwerden liegen.
Die vier Stunden, die die Tour dauern sollte, sind lange überschritten, wir sind müde von der Sonne, den vielen Eindrücken und könnten trotzdem noch weiter mit Mola Lisa reden, Fragen hätten wir genug. Aber auch sie will weiter, ein amerikanisches Nachbarboot möchte auch Molas kaufen und abends will sie noch ein paar Stunden an der „nueva coleccione“, an neuen Molas arbeiten.