Shimokamagari

16. – 20. März 2024

Von Kami-Kamagari fahren wir nur ein kurzes Stück zur Nachbarinsel Shimokamagari, die mit dem Festland durch eine Brücke verbunden ist.

In der Edo-Zeit (1603-1868) war Shimokamagari eine wichtige Station für Reisende in der Seto Inlandsee. Wegen der starken Gezeitenströme mussten die Schiffe Pausen einlegen, gegen den Strom zu segeln ist mühsam und teils nicht möglich.

Für diese meist adeligen Reisenden und ihr Gefolge standen herrschaftliche Unterkünfte bereit. Einige von ihnen sind erhalten geblieben und zu Museen umgestaltet worden. Insgesamt fünf Museen befinden sich auf der Insel! Japanische Geschichte, Kunst und Kultur können hier auf engstem Raum besichtigt werden.

Das Shotoen Museum liegt direkt am Ufer der Meerenge zwischen den beiden Inseln, umgeben von einem japanischen Zen-Garten mit Steinskulpturen.

Das Museum besteht aus mehreren historischen Gebäuden, in denen unterschiedliche Sammlungen aufbewahrt und gezeigt werden, unter anderem ein Keramikmuseum mit wertvollen alten Keramiken aus ganz Japan sowie einem Lampenmuseum, das von antiken Terracotta-Leuchten bis zu japanischen Papierlaternen seltene Fundstücke aus mehreren Jahrhunderten ausstellt.

Am spannendsten für mich ist die ehemalige Banketthalle, in der Exponate über die Geschichte der Koreanischen Gesandten gezeigt werden. Diese Gesandten reisten während der Edo-Zeit in diplomatischen Missionen mehrmals nach Japan und wurden auf ihrer Zwischenstation in Shimokamagari mit großen Ehren empfangen. Die koreanische Delegation bestand meist aus 1.000 Menschen, die sich auf 6 Schiffe verteilten. Es heißt, dass viele Helfer, aber auch Schaulustige auf die Insel kamen, um die koreanischen Gästen zu empfangen – so viele, dass die Insel zu sinken drohe.

Die koreanischen Schiffe wurden von hier aus mit japanischen Ruderbooten weiter durch die Seto Inlandsee befördert. Diese lange Schriftrolle ist ein ganz besonderes Zeugnis aus jener Zeit: hier hat ein unbekannter Zeichner alle Schiffe und Boote festgehalten, die im Jahr 1748 mit der 10. Diplomatischen Mission aus Korea unterwegs waren. Diese Rolle und eine weitere, die die Gespräche der Gesandten mit ihren japanischen Gastgebern protokolliert, sind inzwischen zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden.

Im ehemaligen Banketthaus sind die Empfangszeremonien und Umzüge in Miniatur-Szenen nachgestellt, an den Wänden hängen Zeichnungen von Mitwirkenden, sogar die Speisen, die für die Gäste aufgetragen wurden, sind täuschend echt in Plastik nachgebildet.

Das Rantokako Kunstmuseum und das Sannose Museum für Kunst und Kultur zeigen Malerei und Kunsthandwerk japanischer Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts.

Diese große Treppe vor dem Eingang des Sannose Museums stammt noch aus der Edo-Zeit. Die Schiffe konnten an die Treppe heran fahren und die Passagiere meist trockenen Fußes an Land gelangen.

Ein kleiner Fußweg führt am Kunstmuseum den Berg hoch, wo sich ein historisches Teehaus aus dem 18. Jahrhundert befindet. Früher stand es in Kyoto und wurde erst in den 1990er Jahren dort abgebaut, hierher transportiert und neu aufgestellt. Dieses Teehaus weist eine Besonderheit auf: es besitzt ein weiteres Stockwerk als Aufbau, in dem im 19. Jahrhundert chinesische Schriftrollen studiert wurden. Die Deckenbalken sind über und über mit Schriftzeichen bedeckt.

Als letztes besuchen wir das Insekten-Museum. In Schaukästen werden hier Schmetterlinge, Motten, Käfer und Libellen der Provinz Hiroshima gezeigt, aber auch ein paar seltene Schmetterlinge aus Südamerika. Dazu gibt es Ausstellungstücke aus dem Bereich der Kunst und des Kunsthandwerkes, auf denen Insekten dargestellt sind. Die Sammlung ist in einem schön renovierten japanischen Haus im Sukiya-Stil untergebracht. Wir sind immer wieder beeindruckt von der Harmonie und den kunstvollen Details dieser Art von traditionellen Häusern.

Für den Sonntag ist ein kleines Fest geplant zur offiziellen Einweihung eines Graffiti, das auf eine hohe Mauer am Ufer gemalt wurde. „Here it is“ steht drauf.

Es ist kühl und der Nieselregen hüllt alles in ein trübes Grau, trotzdem sind viele Leute gekommen – von Familien mit kleinen Kindern bis zu fröhlichen alten Damen sind alle Generationen vertreten. Es gibt Essenstände, frisches Obst und auf der improvisierten Bühne treten im Halbstundentakt Musikgruppen auf.

Am spannendsten für die Kinder ist eine Aufführung mit dem japanischen Holzspielzeug namens Kendama, für das man viel Übung und Geschick braucht. Zwei Männer zeigen, wie sie flink die Kugel hin und her balancieren und hüpfen lassen und laden auch Kinder aus dem Publikum auf die Bühne ein, die stolz vorführen, welche Kunststücke sie drauf haben.

Dann holen die beiden Männer ihre erweiterten Kendamas hervor, mit fünf und mehr Kugeln, die alle gleichzeitig mit einem Hops auf die Schalen befördert werden sollen. Nach einigen missglückten Anläufen, die die Spannung deutlich erhöhen, gelingt dem jungen Mann das finale Kunststück.

Der Frühling setzt sich langsam durch! Auf einem Spaziergang über die Insel entdecken wir viele blühende Mimosenbäume.

Kami-Kamagari – Orangen und eine Schutzgöttin

12. – 16. März 2024

Nach ein paar kurzen Wochen in Deutschland, während Muktuk in Hiroshima in einem sicheren Hafen geparkt war, nachdem wir ein paar Reparaturen am Boot erledigt und unsere Bekannten in Etajima noch einmal besucht haben, ziehen wir weiter ostwärts in der Seto Inlandsee.

Nächster Halt für die Muktuk ist der Schwimmsteg auf der Insel Kami-Kamagari.

Auf der anderen Seite der schmalen Landzunge befindet sich eine Art Ferienanlage mit einem Park, einem großen Hotel nebst Sportplatz und einer Reihe einfacher Ferienhäuser mit Meeresblick. Jetzt in der Nebensaison ist kaum was los, wir haben den Strand komplett für uns alleine.

Nur der Onsen und das Café oben am Berg sind einigermaßen gut besucht. Und so sieht ein typisches Mittagsmenü in dem Café aus:

Wir haben wieder Glück mit dem Wetter und nutzen die sonnigen Tage für ausgedehnte Spaziergänge. Von hier oben sieht man, wie die Strömungen der Inlandsee das Wasser durcheinander wirbeln.

Hinter dem Strand mit den Ferienanlagen erheben sich steile Hänge, auf denen Obstgärten mit Zitrusfrüchten angelegt sind, dazwischen die Wirtschaftswege, die wir für unsere Wanderungen nutzen. An den steilen, der Sonne zugewandten Hängen gedeihen die Mandarinen, Orangen und Zitronen im milden Klima der Seto Inlandsee besonders gut.

Gerade hängen die Bäume voller Orangen. Diese Sorte wird in Japan Hasaku genannt. Sie sind größer als die handelsüblichen Orangen, haben eine etwas abgeflachte Form und ein ganz besonderes Aroma mit einer leicht bitteren Note in Richtung Grapefruit.

Auch hier zeigt sich deutlich der Rückgang der Bevölkerung, Arbeitskräfte fehlen, um alle Gärten in Stand zu halten. Wir laufen an vielen aufgelassenen Obstgärten vorbei, in denen das Gras zwischen den Bäumen hoch steht und sich Schlingpflanzen um die Baumstämme und Äste ranken. In manchen Gärten ist die Verwilderung bereits so weit fortgeschritten, dass die Bäume von den Schlingpflanzen komplett überwuchert sind und keine Früchte mehr tragen können.

Die Bäume an diesen steilen Hängen zu pflegen, stellen wir uns sehr mühselig vor. Auch die Ernte ist nicht so einfach. Überall sehen wir eine Art Lastenzüge, auf denen die Obstkisten transportiert werden. Viele sind längst nicht mehr in Betrieb und haben Rost angesetzt, wie auch dieses Auto, das sehr kreativ am Straßenrand parkt.

Die Mandarinen-Saison ist eigentlich schon vorbei. Doch an diesem Baum hängen sie noch dicht an dicht, es ist offensichtlich, dass sich niemand um diesen Garten kümmert. Also trauen wir uns, ein paar Früchte mitzunehmen, sie sind köstlich!

Am nächsten Tag nehmen wir uns einen anderen Höhenweg vor, der uns bis zu einer Andachtsstätte führt.

Hier steht die Statue einer buddhistische Gottheit, die über Fischer und Seefahrer wacht. Die Legende besagt, dass sie früher leuchtete, um sie vor Gefahren in den strömungsreichen Gewässern zu warnen.

Neben der Statue führt ein steiler Weg den Berg hoch. Ich bin nicht mehr so schwindelfrei wie früher und muss meinen ganzen Mut zusammen nehmen, um die Treppen zu bewältigen, den Blick immer fest auf die Stufen gerichtet.

Nach ein paar Windungen und spektakulären Ausblicken erreichen wir ein kleines Plateau, wo eine weitere Andachtsstätte errichtet wurde: ein kleiner Schrein schmiegt sich an den Felsen, davor hängt eine Glocke, die man zum Gebet schlagen kann.

Unten am Parkplatz haben zwei ältere Herren ihre Campingstühle aufgestellt und eine Drohne ausgepackt. Mit ihr verfolgen sie unseren Weg und als wir wieder unten ankommen, fragen sie uns, ob wir einverstanden sind, dass sie die Aufnahmen auf ihrem Kanal auf Youtube einstellen und wir darauf zu sehen sind. Hier ist das Video, das sie von dem Berg gedreht haben.

Birgit und die 500 japanischen Gartenzwerge

09. – 11. Januar 2024

Miyajima hat neben dem roten Torii und dem Itsukushima Schrein aber noch ein anderes Juwel zu bieten, zu dem uns Keisuke hinführte. Die buddhistische Daisho-In Tempelanlage liegt etwa eine Viertelstunde außerhalb der Ortschaft und besteht aus etlichen beeindruckenden Gebäuden, Parks und Statuen. Kobo Daishi, der Gründer dieses Zweigs des Buddhismus, begann hier auf Miyajima seine Karriere.

Auf dem Weg zum Tempel fallen zunächst die süßen kleinen Jizo Statuen auf, die Schutzgottheiten für Kinder darstellen.


Das absolute Highlight des Daisho-In (jedenfalls für uns) sind aber die 500 Rakan-Statuen, die am zum Tempel hinaufführenden Hang aufgestellt sind. Jede Figur stellt einen der Schüler Buddhas dar.

Der Clou: Obwohl alle Figuren aus demselben Material bestehen, alle dieselbe Größe haben (etwa 70-80 cm), und fast alle das gleiche rote Strickmützchen tragen, ist jede absolut einzigartig. Jede der Statuen hat ihre besondere Körperhaltung, ihren besonderen Gesichtsausdruck. Mal streng, mal fröhlich, bedenklich, träumerisch, sinnierend… keine gleicht der anderen. Bei manchen ändert sich der Gesichtsausdruck sogar, wenn man sie aus einer anderen Perspektive betrachtet. Wir kommen aus dem Staunen, Anschauen und Fotografieren gar nicht hinaus.

Beispiele gefällig? Bitteschön:

Miyajima

09. – 11. Januar 2024

Eigentlich wollten wir gar nicht hin. Die Insel vor Hiroshima mit dem roten, ins Wasser gebauten Torii ist eines der ikonischen Wahrzeichen Japans. Über vier Millionen Besucher überfluten pro Jahr die ausgedehnte Tempelanlage der kleinen Insel, die meisten nehmen die Fähre von Hiroshima, bleiben ein paar Stunden auf der Insel und fahren am Abend zurück. Tagsüber und vor allem zu den Hauptreisezeiten ist die Insel so voll, dass man sich nur mühsam durch die Menschenmassen schieben kann und für die besten Fotomotive lange anstehen muss. Das wollten wir uns ersparen, schließlich hat Japan so viele andere, weniger bekannte Schönheiten zu bieten.

Aber wie so oft kam es dann doch anders. Wir wollten mit Keisuke, unserem japanischen Freund, den wir auf Etajima kennengelernt hatten, ein paar Tage segeln gehen, und er wolle Miyajima gerne besuchen, denn der Ituskushima-Schrein ist in der Shinto-Religion eine besonders wichtige heilige Stätte. Früher durfte man als einfacher Bürger den auf Stelzen ins Wasser gebauten Schrein gar nicht betreten. Einzig per Boot durch den Torii war der Zugang möglich. Aber nicht nur der Schrein, die ganze Insel gilt als heilig. Das ist auch der Grund, warum der Schrein ins Meer vor der Insel gebaut wurde, um die heilige Insel unberührt zu lassen. Das Schlachten von Tieren sowie Geburten und Beerdigungen sind noch heute auf der ganzen Insel streng tabu.

Dank Keisukes Japanisch-Kenntnissen konnten wir für Muktuk einen Liegeplatz in der Nähe des Schreins reservieren. Im Winter war der Besucherstrom ohnehin etwas ausgedünnt, und als gegen 17 Uhr die letzte Fähre abgelegt hatte, waren wir mit den ca. 2000 ständigen Bewohnern der Insel, ein wenigen Dutzend Übernachtungsgästen und ein paar hundert freilaufenden Sika-Hirschen allein.

Ganz magisch wurde es dann, als wir uns nachts bei Niedrigwasser noch einmal zum Torii aufmachten. Außer uns war kein Mensch unterwegs, wir konnten auf der Sandbank fast bis zum Torii hinlaufen und das eindrucksvoll beleuchtete Bauwerk samt Spiegelung im Wasser bewundern.

Wir sind sehr froh und dankbar, dass unser Plan, Miyajima auf unserer Reise auszulassen, fehlgeschlagen ist.

Neujahr in Etajima

29. Dezember 2023 – 09. Januar 2024

Für die letzten Tage des alten Jahres finden wir einen Ankerplatz in einer geschützten Bucht der Insel Etajima, zwischen dem Fähranleger und einer kleinen Felsinsel mit einem roten Schrein ist gerade genug Platz für uns. Ein paar Schritte weiter an Land befindet sich ein schöner Onsen mit Sauna und Außenbecken.

Im Onsen trifft Andreas auf Keisuke und Yasu, beide Ende Zwanzig, mit denen wir uns später im Foyer noch etwas unterhalten. Wir laden die beiden ein, uns am nächsten Tag auf der Muktuk zu besuchen und verbringen mit ihnen einen fröhlichen Nachmittag. Keisuke hat ein Jahr lang in Australien und ein weiteres Jahr in Kanada gearbeitet. Und auch Yasu spricht Englisch, so dass die Kommunikation wunderbar klappt.
Keisuke reist zurzeit mit dem Auto durch Japan, er kann online arbeiten und ist ortsunabhängig. Auf Etajima ist er schon seit einer ganzen Weile, hat Freunde gefunden und hilft einem von ihnen bei der Renovierung eines Hauses. Im Lauf der nächsten Tage macht er uns mit vielen seiner Freunde hier auf der Insel bekannt.

Um Neujahr herum gibt es in Japan etliche Feiertage, viele Firmen machen in dieser Zeit Betriebsurlaub und so nehmen sich viele Menschen eine ganze Woche frei, um zu ihren Familien zu fahren. Silvester ist ein stilles Fest in Japan, Feuerwerk und Böller gibt es keine. Das öffentliche Leben kommt fast gänzlich zum Stillstand – etwa vergleichbar mit Heilig Abend und den Weihnachtsfeiertagen in Deutschland.

Am letzten Abend im Jahr wird eine Suppe mit langen Soba-Nudeln gekocht. Die Nudeln stehen stellvertretend für ein langes Leben und ein gutes neues Jahr. In den buddhistischen Tempeln gibt es verschiedenen Zeremonien, so werden um Mitternacht 108 Glockenschläge geschlagen: 107 im alten Jahr und einer im neuen Jahr. Am Neujahrstag wiederum sind die Shinto-Schreine voll mit Besucherinnen und Besuchern, die für Glück und Segen im neuen Jahr beten.

Da am Silvesterabend alle Restaurants geschlossen sind, bereiten wir die traditionelle Suppe mit den Soba-Nudeln bei uns an Bord zu. Wir schlürfen gewissenhaft und wünschen uns dabei schon mal Gesundheit fürs neue Jahr.

Gegen 23 Uhr machen wir uns auf den Weg zu einem buddhistischen Tempel, den Keisuke uns empfohlen hat. Dort angekommen, werden wir von einem älteren Paar, offensichtlich im Kuratorium des Tempels tätig, freudig erstaunt begrüßt. Sie geben uns zwei schön bedruckte Zettel mit einer Nummer drauf, die wir unbedingt beachten sollten.

Sie zeigen uns, welche Verrichtungen wichtig sind: so spenden wir einige 100-Yen-Münzen, dürfen Räucherkerzen anzünden und uns zu einem kurzen Gebet vor dem Altar verneigen. Danach bitten sie uns, ein Foto mit dem Priester des Tempels machen zu dürfen.

Etwa 20 Minuten vor Mitternacht ist der Andachtsraum des Tempels fast zur Hälfte gefüllt, wir sitzen alle auf niedrigen Stühlen vor dem breiten Altarraum. Der Priester beginnt mit einem kurzen Gottesdienst. Er betet, singt mit der Gemeinde zwei Lieder und hält eine kurze Predigt. Wir verstehen leider gar nichts davon, aber seiner Miene nach zu urteilen und den Reaktionen der anderen Zuhörer, war es eine Ansprache voller Zuversicht und Freude. Danach gehen wir alle raus in den großen Hof des Tempels.


Gesangbuch

In einer Ecke des Hofes befindet sich in einem stabilen Holzgerüst eine riesige Glocke. Der Priester klettert hoch zur Glocke, während sich die Gemeinde in einer ordentlichen Reihe vor dem Podest aufstellt, gemäß den Nummern auf den anfangs erhaltenen Zetteln. Alles ist wohl organisiert.
In diesem Tempel gibt es eine andere Tradition als die, von der wir im Internet gelesen haben. Der Priester schaut gebannt auf sein Mobiltelefon und Punkt Mitternacht schlägt er als erster die Glocke. Dafür schwingt er ein starkes rundes Holzstück, das an einer Kette befestigt ist, mit viel Schwung auf die Glocke zu. Danach verbeugt er sich kurz zu einem Gebet.

Nach ihm ist die Gemeinde dran. Jeder und jede darf zur Glocke hoch steigen und einen Ton schlagen, kurz innehalten und sich verneigen, so auch wir. Ein erhebender Moment für uns, Teil dieser Zeremonie sein zu dürfen.

Es herrscht eine fröhlich-feierliche Stimmung im Hof. Die Leute fotografieren sich gegenseitig, auch die Kinder dürfen die Glocke schlagen, die ganz Kleinen werden in die Luft gehoben, um den Klöppel zu erreichen.

Im Hof ist ein Stand aufgebaut, wo alle einen Becher mit heißer süßer Amazake bekommen, einem auf Basis von Reis fermentierten alkoholfreien Getränk. Etwas weiter weg brennt in einer großen Blechtrommel ein Holzfeuer, an dem man sich anschließend wärmen kann.

Wir freuen uns, wie selbstverständlich wir in die Zeremonie mit einbezogen werden und wie freundlich uns die Leute alle anschauen. Manche fragen ganz neugierig, woher wir kommen und wollen gerne wissen, was uns bewogen hat, um Mitternacht in den Tempel zu kommen. Wir versuchen, so gut es geht, mit unserem bisschen Japanisch diese Fragen zu beantworten.

Am Neujahrstag holt uns Keisuke gegen Mittag mit seinem Auto ab und wir fahren zusammen zu einem Shinto-Schrein. Erst müssen wir – wie bei fast allen großen Schreinen – eine steile Treppe hoch steigen.

Im Vorraum des Schreines stellen wir uns in die Warteschlange, während Keisuke erklärt, was wir zu tun haben: verbeugen, beten, zwei Mal in die Hände klatschen, noch einmal verbeugen, während die beiden Priester ihre Gebetsfahnen über uns schwenken. Danach bekommen wir aus einem flachen Schälchen einen Schluck Sake, den zwei junge Frauen den Besuchern anbieten.

Auf der linken Seite des Raumes sind Tische aufgebaut, da kann man Glücksbringer kaufen und aus einem Automaten Zettel mit Prophezeiungen für das neue Jahr ziehen. Wir gehen zurück in den Hof, wo Keisuke unsere Zettel anschaut und sie für uns übersetzt. Wir haben Glück, es sind lauter gute Dinge, die uns für das neue Jahr vorhergesagt werden.

Wenn man einen Zettel bekommen hat, der nicht so gut klingt, kann man ihn an einem der Blumengestecke anbinden und für bessere Vorhersagen beten. Während der Gebete sind alle sehr gefasst und feierlich, davor und danach herrscht eine zwanglos geschäftige Stimmung. Die Familien fotografieren sich gegenseitig vor dem Eingang des Tempels oder mit den Blumen im Hintergrund und auch wir machen viele Fotos.

Danach nimmt Keisuke uns zu seinen Freunden mit. Eine größere Gruppe hat sich bei Haru und Yasu in ihrem „Wearhouse“ eingefunden, eine Art Café, Second-Hand-Laden und Veranstaltungsort in einem. Wir werden herzlich begrüßt und finden uns nach einer ersten Vorstellungsrunde mit einem Glas Wein in der Hand in ernsthafte Gespräche verwickelt. Wie wir nach und nach feststellen, haben die meisten von ihnen beschlossen, sich nicht oder nicht mehr dem Erfolgsdruck und den oft unmenschlichen Bedingungen eines Angestelltenlebens (company slave) in der Großstadt auszusetzen. Sie versuchen, eine bessere Balance zwischen Arbeiten und Leben zu finden. Es ist eine Gruppe mit durchweg interessanten Menschen, die alle eine spannende Geschichte zu erzählen haben.

Was für ein Glück, Oshogatsu (Neujahrsfest mit Familie und Freunden) in diesem Kreis feiern zu dürfen.

Der Nachmittag ist viel zu schnell vorbei, darum verabreden wir uns für die nächsten Tage, an denen sie alle noch frei haben.

Zuerst kommen Haru, Yosuke, Asuka und Keisuke zu uns an Bord und wir sitzen in kleiner Runde bis spät nachts zusammen, essen und erzählen.

Zwei Tage später finden sich noch mehr junge Menschen ein, Freunde von Freunden, die alle Zeit haben und unbedingt einmal so ein Segelboot auf Langfahrt anschauen wollen. Da wir vor Anker liegen, klingelt ständig ein Mobiltelefon und Andreas macht sich auf den Weg zum Steg, um mit dem Dinghi die nächsten Besucher abzuholen. So sitzen wir schließlich zu elft in der Messe, am Tisch und auf der Treppe, darunter ein kleiner Junge von gerade mal 18 Monaten. Alle haben Unmengen an leckerem Essen mitgebracht und Kartons voller Getränke, auf dem großen Tisch ist kaum noch Platz für Teller. Wir steuern eine Lasagne bei und staunen, wie kunstvoll sie mit Stäbchen verzehrt werden kann.

Alle reden durcheinander, erzählen, machen Witze, lachen. Später spielt der Vater des kleinen Jungen auf der mitgebrachten Handpan, Andreas holt unsere Gitarre und zwei weitere Besucher spielen darauf ein paar Stücke. Wir sind begeistert und glücklich, so viele neue Menschen auf einmal kennen zu lernen.

Und wir hoffen, dass wir sie vielleicht auch später noch ab und zu treffen werden. Denn sie haben uns einen Floh ins Ohr gesetzt: in den ländlicheren Gegenden von Japan stehen viele Häuser leer und sind für sehr wenig Geld zu haben. Der Bürgermeister von Etajima sei sehr offen für alle, die sich hier niederlassen möchten, er unterstützt die neu Zugezogenen so gut es geht. Und warum wir nicht auch hierher ziehen wollten, meinen sie. Nun haben wir für das neue Jahr viel zum Nachdenken auf den Weg bekommen.

Diese Tage auf Etajima sind wirklich etwas ganz Besonderes!