Endspurt – die letzten Tage auf See
Zuletzt wurden wir noch einmal ordentlich durchgeschüttelt. Eine kleine Front ging durch und eine alte Welle legte sich über die Windsee. Davor aber bescherte uns Rasmus schnell noch eine Flaute, in der wir einen Tag lang herum dümpelten. Eine letzte Geduldsprobe für uns! So sind die zehn Wochen doch noch fast voll geworden.
Die Tölpel – das Finale: Kurz bevor wir endgültig ihren Wirkungskreis verlassen haben, beehrten uns die Tölpel noch ein letztes Mal mit einem Besuch. Und wie es sich für eine ordentliche Abschiedsparty gehört, erschienen sie am Abend gleich im Dutzend und mehr. Für Vogelanthropologen wäre es sicher spannend gewesen, wie sich diese Gruppe auf der Querstange zwischen den beiden Masten niederließ: fauchend, krächzend und Flügel schlagend verteidigte zunächst jeder einzelne Tölpel seinen Platz und rückte dann doch überraschend beiseite, um ein weiteres Plätzchen auf der Stange frei zu machen. So viele auf einmal hatten wir noch nie auf dem Boot sitzen. Für uns war die Angelegenheit weniger erfreulich, wussten wir doch, wie am nächsten Morgen die Segel und das Deck aussehen würden.
Rasmus kam uns am nächsten Tag zu Hilfe und schickte ein paar Wellen übers Deck, um den Vogelmist weg zu schwemmen. Das war sehr gut gemeint. Allerdings – eine der Wellen schaffte es auch unter Deck. Wir hatten nur die Luke am Niedergang zugezogen, das Steckschott war nicht drin, so dass sich eine große Menge an Salzwasser ins Boot ergießen konnte. Das war der größte Platscher der Überfahrt, wir mussten den Kühlschrank und den Herd trocken reiben, das meiste floss in die Bilgen, aus denen wir einige Liter Wasser heraus holten. Am nächsten Tag stellten wir dann fest, dass auch die Schalt-Tafel über dem Kühlschrank Salzwasser abbekommen hatte und trocken gelegt werden musste. Ein weiterer Punkt auf der Arbeitsliste: Schalter auswechseln, Inverter überprüfen.
„Auch das Bad müssen wir dringend renovieren“, meinte Andreas, nachdem er den Eimer zum wiederholten Male geflickt hatte.
Die letzten Tage zogen sich hin wie Kaugummi. Wir rechneten hin und her, wie schnell oder langsam wir segeln müssten, um bei Tageslicht anzukommen. Mittwoch am späten Nachmittag wäre zu knapp, dann doch lieber Donnerstag in der Früh, auch wenn das bedeuten würde, dass wir ein paar Stunden lang beidrehen und draußen auf See warten müssten. Die Marina in Yonabaru auf Okinawa liegt in einer großen Bucht und ist zusätzlich von einem vorgelagerten Riff geschützt. Nachts in die Bucht rein zu fahren und in ruhigem Wasser zu warten, wäre ideal, aber bei Dunkelheit würden wir die Fischfarmen nicht erkennen können und ankern ist verboten, weil da zu viele Unterseekabel verlegt sind.
Die Behörden in Okinawa sehen es gerne, dass man ihnen 48 Stunden vorher Bescheid gibt und die Ankunft möglichst auf ihre Bürozeiten legt. Japaner sind den Deutschen in Sachen Pünktlichkeit und Genauigkeit sehr ähnlich, sie schätzen diese Tugenden sehr. Doch die Muktuk ist nun mal kein Shinkansen, der auf die Sekunde genau in den Bahnhof einfährt. Dieser berühmte Hochgeschwindigkeitszuges verdankt seine übergenaue Pünktlichkeit der Tatsache, dass er ein eigenes Schienennetz besitzt und ungestört von anderen Zügen fahren kann. Wir jedoch haben Wind und Welle aus allen möglichen Richtungen und vielleicht sogar noch unbekannte Meeresströmungen für unseren Fahrplan zu berücksichtigen. Und ein bisschen Reserve würden wir auch einplanen, auch wenn es vielleicht unhöflich erscheinen könnte, zu früh anzukommen.
Andreas stellt einen Fahrplan im Stundentakt auf, anhand dessen wir die nötige Geschwindigkeit an die verbleibenden Meilen anpassen können. Wir schaffen es ziemlich gut, den Fahrplan einzuhalten, auch wenn wir einmal unsere Fahrt verlangsamen müssen, um einen Frachter durchzulassen. Vor Okinawas Küste ist viel los, Frachter fahren rauf und runter, Fischerboote ziehen ihre Runden, überall sind Lichter zu sehen, und es ist nicht immer klar, ob diese von Land oder von Schiffen stammen. Wir müssen gut aufpassen und sind froh, dass alle Boote mit AIS ausgestattet sind und wir auf der elektronischen Seekarte ganz genau erkennen können, in welche Richtung sie in dieser Nacht fahren.
Ankunft
Bis zuletzt passt alles, und wir können, wie angekündigt, um 10:00h am Besuchersteg in der Marina von Yonabaru auf Okinawa anlegen. Pünktlich auf die Minute! Die Muktuk samt Lokführer könnten sich für eine eigene neue Bootsklasse namens „Shinkansen“ qualifizieren.
Zwei Männer von der Marina nehmen die Leinen an, die Beamten warten alle schon am Steg. Wie bereits vor vier Jahren, kommen zuerst eine junge Frau und zwei Männer von der Gesundheitsbehörde aufs Boot, messen Fieber und fragen nach Krankheiten. Nach so vielen Wochen auf See ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen müssen wir nicht in Quarantäne. Danach sind die anderen Beamten an der Reihe: die von der Küstenwache und vom Zoll kommen an Bord. Die Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde haben im Foyer der Marina ihre Computer und Geräte aufgebaut, mit denen sie unsere Fingerabdrucke scannen und ein Foto von uns machen. Alle sind super nett und freundlich und während wir die vielen Formulare ausfüllen, kommen wir schnell ins Gespräch. Manche von ihnen sprechen gut Englisch und wollen wissen, wie die Überfahrt war, wo wir bereits überall gesegelt sind und erzählen uns, dass sie gerne mal nach Deutschland fahren möchten.
Knapp zwei Stunden später sind alle Formalitäten erledigt. Wir haben ein Visum für drei Monate erhalten und ein sehr wichtiges Papier ausgestellt bekommen: das sogenannte „Naikosen“. Damit wird die Muktuk für die Dauer unseres Aufenthalts in Japan zollrechtlich wie ein inländisches Boot behandelt und nicht in jedem Hafen erneut kontrolliert.
Wir sind so froh und erleichtert, dass wir endlich angekommen sind und festen Boden unter den Füßen haben! Wir beschließen, unsere neu gewonnene Bewegungsfreiheit sofort auszunutzen und zum Mittagessen in den Ort zu gehen. Vor vier Jahren lagen wir schon einmal zwei Wochen lang in Yonabaru in der Marina und sind nun gespannt, ob noch alles so ist, wie wir es in Erinnerung haben. Ja, das ist es! Die ältere Dame, die in ihrem Wohnzimmer ein Café betreibt und jeden Mittag ein komplettes Menü für ihre Gäste kocht, hat heute geöffnet. Nach kurzem Überlegen erinnert sie sich sogar an uns – ach, die Deutschen! Wir freuen uns, dass wir bei ihr essen können, es ist alles immer noch so liebevoll zubereitet und schmeckt herrlich!
Auf dem Rückweg gehen wir einkaufen: zuerst in den „Farmers Market“, einen Gemüseladen, der nur Produkte von Bauern aus der Region verkauft. Alles Obst und Gemüse ist frisch und makellos: Zwei Tische voller Tomaten mit bestimmt zehn verschieden Sorten, dann die vielen verschiedenen Arten von asiatischem grünen Kohlgemüse, von denen wir gerade mal Pak Choi und Chinakohl beim Namen kennen. Auch im Supermarkt gehen uns die Augen über, und wir müssen uns sehr zusammen reißen, um nicht zu viel einzukaufen – wir können ja jeden Tag wieder kommen, das Einkaufszentrum befindet sich gleich gegenüber von der Marina.
Wir haben die letzten Wochen so oft von diesen beiden Geschäften gesprochen und von frischen Tomaten, dem berühmten Tofu von Okinawa und all den japanischen Spezialitäten geträumt. Nun sind wir tatsächlich da und können es doch kaum glauben.
Nach 68 Tagen und rund 7.400 Seemeilen nonstop von Mexiko nach Japan, sind wir am 16. März 2023 angekommen.