Kartenfund

Ich habe mir schon immer gern vorgestellt, was man sähe, wenn die Meeresoberfläche eine Art Glasscheibe wäre, durch die man bis zum Grund hindurchsehen könnte. In Küstennähe könnte man die Untiefen erkennen, sehen, wo man am besten Ankern kann, wunderbar angeln, weil man alle Fische sieht usw.

Ganz spannend wäre es aber auf hoher See, wo man wie im Flugzeug ein paar tausend Meter tief herabsehen und die unterseeische Landschaft bewundern könnte. Hier im Nordpazifik hätte man ein ganz besonderes Schauspiel, denn in der Nähe der Kontinentalplattengrenzen gibt es unzählige sogenannte Tiefseeberge (englisch: seamounts), meist erloschene Vulkankegel, die vom Meeresgrund aus oft tausend oder mehr Metern in die Höhe ragen. Würden sie es bis über die Wasseroberfläche schaffen, würden wir sie Inseln nennen. Aber die Gipfel der Tiefseeberge bleiben eben unter Wasser. Es sind so viele, dass Schätzungen zufolge nur etwa zwei Drittel von ihnen bisher kartografiert sind. Immer mal wieder rammt ein Fahrzeug (zugegebenermaßen meist ein U-Boot) ein bisher unentdecktes Exemplar. Wenn es Glück hat, wird der Tiefseeberg dann nach ihm benannt.

Wie bei Straßennamen in Neubausiedlungen bekommen manchmal einige benachbarte Tiefseeberge zusammengehörige Namen. Nördlich von Hawaii etwa lebt die Gebirgskette der fünfundsechzig „Musicians Seamounts“, alle benannt nach berühmten Komponisten. Von Rossini bis Wagner, von Verdi bis Chopin – jeder hat hier seinen eigenen Berg. Bach bekam natürlich gleich einen ganzen Gebirgszug, und Mendelssohn gleich zwei Tiefseeberge, passend East Mendelssohn und West Mendelssohn genannt.

Aber jetzt zum Anlass dieser Bemerkungen: als ich bei der Routenplanung die Seekarte studierte, fand ich gerade mal hundert Seemeilen südlich von dem Gebiet, das wir gerade durchfahren haben, eine weitere Gruppe. Zu meinem großen Entzücken heißt diese „Mathematicians Seamounts“ und besteht aus neun Tiefseebergen, alle nach verdienten Mathematikern (na gut: auch Physikern) benannt. Da finden sich der Euclid Seamount (Begründer der Arithmetik, Geometrie und Axiomatik), Lagrange Seamount (Gruppen- und Zahlentheorie, Analysis und Himmelsmechanik), Laplace Seamount (Wahrscheinlichkeitsrechnung, Differentialgleichungen), Newton Seamount (Begründer der modernen Physik, Erfinder der Infinitesimalrechnung), Bernoulli Seamount (Strömungsdynamik), Riemann Seamount (Analysis, Differentialgeometrie, Zahlentheorie), Cantor Seamount (Mengenlehre, Erforscher der Unendlichkeit), Lobachevskij Seamount (nichteuklidische Geometrie) und Napier Seamount (Erfinder der Logarithmen).

Während es die „Musician Seamounts“ immerhin ins englischsprachige Wikipedia geschafft haben, sind die Mathematiker-Gebirge dort völlig unbekannt. Viele Teilgebiete der Mathematik und viele verdiente Mathematiker bleiben hier auch unberücksichtigt. Wo bleiben Algebra oder Topologie? Was ist mit Euler, Gauß oder Jacobi? Sind den Namensgebern etwa die Tiefseeberge ausgegangen? Oder gibt es in Wirklichkeit viel mehr Mathematiker unter Wasser, aber aus Gründen der Übersichtlichkeit verzeichnet meine Seekarte (INT 51) nur einige davon – schließlich muss ja noch Platz bleiben für Tiefenangaben und anderen nautischen Kram?

Aber wir stellen uns natürlich schon die Frage: wer ist für die Benennung der Tiefseeberge eigentlich zuständig? Die befinden sich ja üblicherweise außerhalb der Hoheitsgewässer. Gibt es ein „Internationales Komitee zur Benennung der Tiefseeberge“ als Teil der UNO? Wenn ja, wie kann man da Mitglied werden? Oder fallen die Namen in die Zuständigkeit des Deutschen Alpenvereins, Abteilung Tiefsee, Sektion Nordpazifik?

Viele spannende Fragen bleiben also unbeantwortet, bis wir wieder Internet haben. Bis dahin drücken wir die Daumen, keinem unentdeckten Tiefseeberg zu begegnen, der es bis auf drei Meter fünfzig fast zur Insel geschafft hätte. Auch wenn wir ihn dann vielleicht Muktuk Seamount nennen dürften…