29. April bis 4. Mai
Hunderte kleiner Inseln gibt es in der Seto Inlandsee. Mildes Klima (vom gelegentlichen Taifun einmal abgesehen), unverbaubarer Seeblick, landschaftlich wunderschön – lägen diese Inseln irgendwo in Europa, würden sich Hotels und Ferienhausbesitzer um die Grundstücke reißen. Hier aber wirken viele der Inseln wie ausgestorben: die großzügig angelegten Fischereihäfen halb leer, viele Häuser offenkundig leerstehend, oft auch verfallen. Wer braucht schon ein Ferienhaus bei 16 Urlaubstagen im Jahr? Auf der Straße sehen wir hauptsächlich Alte, denn die Jugend zieht es in die Großstädte. Japan ist noch schlimmer als westliche Industrienationen von der Überalterung der Gesellschaft betroffen, Arbeitskräfte in der Landwirtschaft fehlen, jahrhundertealte handwerkliche Traditionen drohen verloren zu gehen.
Doch es ist nicht alles düster. Auf vielen Inseln gibt es Initiativen, die Ortschaften wiederzubeleben oder Touristen anzulocken: eine lokale Brauerei, ein französisch angehauchter Bäcker, ein schmuckes kleines Café. Manche Inseln locken mit Spezialitäten: Ikuchijima ist berühmt für seine Zitronen, auf Shodoshima wird Olivenöl produziert, aus Kitagi kommt Granit für Grabsteine, Ogijima und Matabe werben mit ihrer großen Population an Straßenkatzen usw.
Einer der größten Publikumsmagneten ist aber die Kunst. Einige Inseln haben berühmte Kunstmuseen, und alle drei Jahre findet das Setouchi Art Festival statt. Und Glückspilze, die wir sind: 2019 ist solch ein Jahr. Wir haben uns schon im Vorverkauf ein Saisonticket gekauft und können damit auf zwölf Inseln Kunst anschauen. OK, das haben wir nicht ganz geschafft, wir haben uns auf die vier Hauptinseln beschränkt. Der Beginn des Art Festivals fiel zusammen mit der „Golden Week“, einer Reihe von Feiertagen, die die wichtigste Urlaubswoche des Jahres in Japan darstellt. Entsprechend voll war es natürlich, denn die Infrastruktur der Inseln mit ihren Restaurants, Fähren und Bussen ist normalerweise auf ein paar Hundert oder Tausend Einwohner ausgelegt und bricht unter dem Ansturm der nicht nur kunst-hungrigen Menschenmassen bisweilen zusammen. Aber überwiegend ist alles gut organisiert und wir genießen nicht nur die Kunstwerke an sich, sondern auch die gelassene Ferienstimmung der vielen Besucher. Dank der typisch japanischen Höflichkeit und Rücksichtnahme kommt auch bei Gedränge und Wartezeiten erstaunlich wenig Stress auf.
Die Kunstprojekte selbst stammen sowohl von japanischen als auch von international bekannten Künstlern. Es ist die für moderne Kunst so typische Mischung, von „hmmm“ bis spannend, von „wow“ bis „na ja“. Viele Werke nehmen die geschilderte Problematik der Landflucht auf. Die Reihe der Arthouse Projekte z.B. baut verlassene Häuser zu Kunstprojekten um, indem sie entkernt und neu gefüllt werden, etwa mit Wasser-, Klang- und Lichtinstallationen, skurrilen Töpferkunstwerken, an Spinnweben anmutende gespannte Schnüre etc. Überall im Freien stehen Skulpturen herum, oft wird dabei die Landschaft oder Ortsgeschichte mit einbezogen.
Unser Favorit war das Kunstmuseum in Teshima, ein linsenförmiger Betonbau mit zwei runden Löchern im Dach, in dem nichts ausgestellt war (es gäbe ja auch keine Wände zum Aufhängen von Bildern), und wo nur die meditative Präsenz des Gebäudes an sich im Vordergrund steht. Aus stecknadelgroßen Löchern im Boden werden Wassertropfen gepumpt, die auf dem glatten, nicht ganz waagerechten Boden entlangrinnen, auf ihrem Weg andere Tropfen mitnehmen, sich zu kleinen Rinnsalen und schließlich Pfützen vereinigen, von wo aus sie wieder im Boden verschwinden. Und überall in den kleinen Wasserkunstwerken spiegelt sich das Gebäude selbst mit seinen zwei Löchern, durch die der Himmel hereinscheint. Klingt in der Beschreibung vielleicht nicht nach viel, ist aber hinreißend schön. Dass man dabei nasse Socken bekommt (denn die Schuhe muss man natürlich draußen ausziehen), stört dabei kaum.